LSVD fordert Weiterführung des Bundesaufnahmeprogramms Afghanistan durch die Bundesregierung
Berlin, 17.07.2024. Das Fortbestehen des Bundesaufnahmeprogramms zu Afghanistan (BAP) ist akut gefährdet. Laut Kabinettsentwurf will die Bundesregierung den für das BAP vorgesehenen Etat des Bundesinnenministeriums (BMI) für das Jahr 2025 auf rund 13 % des Budgets im Vergleich zu 2024 kürzen. Das würde de facto das Ende des BAP bedeuten, und somit auch ein vorzeitiges Ende dieses modellhaften Menschenrechtsprogramms, mit dem die Migration kontrolliert gesteuert werden sollte. Der Haushaltsentwurf sieht vor, den Haushalt des BMI um 400 Millionen Euro zu erhöhen, gleichzeitig aber essentielle Mittel für humanitäre Aufnahmeprogramme zu streichen. Mit den Streichungen würden nicht nur die ressortübergreifenden Abstimmungen missachtet sondern auch explizit im Koalitionsvertrag festgelegte Zusagen untergraben. Diese Streichungen müssen logischerweise auch dazu führen, dass das Programm nicht ordnungsgemäß zu Ende geführt werden kann und Aufnahmezusagen zurückgenommen werden müssen. Zu diesem Vorgehen erklärt Jörg Hutter vom Bundesvorstand des Lesben- und Schwulenverbands (LSVD):
Der LSVD engagiert sich bereits seit Anfang 2022 sehr stark, um lesbische, schwule, bisexuelle, trans* und intergeschlechtliche sowie weitere queere (LSBTIQ*) Afghan*innen vor der Verfolgung durch die Taliban zu retten. Das Bundesaufnahmeprogramm darf jetzt nicht enden, sondern muss wie vorgesehen weitergeführt werden! Bis dato wurden hunderte Personen beim Innenministerium im BAP registriert und eine hohe zweistellige Zahl nach Deutschland mit dem BAP ausgeflogen. Wir arbeiten hierbei eng mit internationalen Partner*innen zusammen und sorgen in Zusammenarbeit mit queeren Organisationen in Deutschland dafür, diese Personen bei der Integration in Deutschland zu unterstützen.
Diese Arbeit ist uns deshalb so wichtig, weil die afghanischen LSBTIQ*-Personen mit Abstand zu den am meisten gefährdeten Gruppen der Verfolgten zählen. Die große Mehrheit der Bevölkerung lehnt diese Gruppe ab und heißt die brutale Verfolgung gut. Dies trifft auch auf die Herkunftsfamilie zu, die ihre eigenen Kinder als eine Schande für die Familie und Verwandtschaft empfinden und sie lieber tot als lebendig sehen wollen. Viele dieser Kinder sind daher sogar als Opfer ihrer eigenen Eltern zu beklagen. Das wiederum ist mit der Grund dafür, dass sie trotz höchster Vulnerabilität bisher nur einen stark unterrepräsentierten Zugang zu deutschen Aufnahmeprogrammen erhalten haben. In den bisherigen humanitären Aufnahmen aus Afghanistan (Menschenrechtsliste, Überbrückungsprogramm, Bundesaufnahmeprogramm) sind nur etwa 1% der ausgewählten Menschen LSBTIQ*-Personen.
Wir können leider die Opfer nicht quantifizieren, weil viele Personen einfach verschwinden und nicht wieder auftauchen und an gefundenen Leichen oftmals nicht mehr erkennbar ist, um wen es sich handelt und warum die Person ermordet worden ist. Wir wissen aber von Berichten, dass es Gefängnisse ausschließlich für LSBTIQ*-Menschen gibt, dass die Taliban von der Folter überall exzessiv Gebrauch machen, dass viele Personen bei Kontrollen einfach erschossen werden und eine nicht zählbare Anzahl von Personen in den letzten drei Jahren dadurch verschwunden ist.
Wir fordern daher von der Bundesregierung, den Mitgliedern des Bundestags und den Haushaltspolitiker*innen:
1. Die Bundesregierung muss das Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan wie geplant weiterführen und mindestens bis zum Ende der Legislaturperiode vollumfänglich weiter finanzieren. Die verantwortlichen Ressorts müssen das Programm so ausstatten, dass sich die humanitären Aufnahmen gefährdeter Afghan*innen im Umfang der Aufnahmeanordnung auch umsetzen lassen.
2. Die Bundesregierung muss das von ihr selbst gesteckte Ziel der Aufnahme von bis zu 1.000 gefährdeten Personen im Monat – also insgesamt bis zu 36.000 Personen – weiter verfolgen und realisieren. Hierfür darf sie das Verfahren nicht einstellen, sondern muss es in allen seinen Phasen beschleunigen.
Durch die geplanten Kürzungen verschlechterten sich die Zustände in Islamabad (Pakistan) dramatisch. Aktuell harren dort über 3.700 Personen aus, die sich bereits im Aufnahmeverfahren befinden. Weitere ca. 15.000 Personen hat die Bundesregierung bereits ausgewählt und kontaktiert, viele warten seit Monaten auf Rückmeldung. Die Umsetzung dieser Kürzungen würde für sie bedeuten:
Die Menschen in Pakistan und Afghanistan blieben ihrem Schicksal überlassen. Ihnen drohten weitere schwere Menschenrechtsverletzungen wie physische und psychische Gewalt, Folter und im Fall von Pakistan auch Abschiebungen. Insbesondere für die hiervon betroffenen LSBTIQ*-Personen würde dies eine direkte Existenzbedrohung bedeuten, weil die Taliban angekündigt haben, diese Menschen durch Folter, Steinigung oder lebendiges Begraben zu vernichten.
Zum Hintergrund:
Mit dem Bundesaufnahmeprogramm wurde im Oktober 2022 ein modellhaftes Menschenrechtsprogramms für besonders gefährdete Afghan*innen geschaffen. Zu den Zielgruppen des Programms gehören Personen, die aufgrund ihres Einsatzes für Frauen-/Menschenrechte, ihrer Tätigkeit in den Bereichen Justiz, Politik, Medien, Bildung, Kultur, Sport oder Wissenschaft besonders gefährdet sind, oder die aufgrund ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität oder ihrer Religion besonders gefährdet sind. Laut Aufnahmeanordnung sollen monatlich bis zu 1000 gefährdete Personen und ihre Angehörigen eine Aufnahmezusage erhalten. (Siehe Anordnung des Bundesministeriums des Innern und für Heimat gemäß § 23 Absatz 2, Absatz 3 i. V. m. § 24 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) zur Aufnahme von besonders gefährdeten afghanischen Staatsangehörigen aus Afghanistan vom 19. Dezember 2022).
Die Aufnahmezahlen sind bisher weit hinter den Versprechungen zurückgeblieben: Mitte Juli 2024 sind erst 533 Personen über das BAP in Deutschland angekommen.
Koalitionsvertrag 2021,Seite 133:
Wir werden die geordneten Verfahren des Resettlement anhand der vom UNHCR gemeldeten Bedarfe verstärken. Wir werden ein humanitäres Aufnahmeprogramm des Bundes in Anlehnung an die bisher im Zuge des Syrien-Krieges durchgeführten Programme verstetigen und diese jetzt für Afghanistan nutzen. Wir werden unsere Verbündeten nicht zurücklassen. Wir wollen diejenigen besonders schützen, die der Bundesrepublik Deutschland im Ausland als Partner zur Seite standen und sich für Demokratie und gesellschaftliche Weiterentwicklung eingesetzt haben. Deswegen werden wir das Ortskräfteverfahren so reformieren, dass gefährdete Ortskräfte und ihre engsten Familienangehörigen durch unbürokratische Verfahren in Sicherheit kommen. Wir werden humanitäre Visa für gefährdete Personen ermöglichen und dazu digitale Vergabeverfahren einführen.
Darüber hinaus haben die folgenden Organisationen ein gemeinsames Statement veröffentlicht:
- Afghanistan-Schulen Verein zur Unterstützung von Schulen in Afghanistan e.V.
- Amnesty International Deutschland e.V.
- Artists at Risk (AR)
- Association of Prosecuting Attorneys, Inc.
- AWO Bundesverband e.V.
- BAfF e.V.
- Bundesarbeitsgemeinschaft PRO ASYL e.V.
- Kabul Luftbrücke
- LeaveNoOneBehind
- LSVD⁺ - Verband Queere Vielfalt e. V. (zuvor Lesben- und Schwulenverband LSVD)
- medico international
- move on - menschen.rechte Tübingen e.V.
- Reporter ohne Grenzen Deutschland
- Stitching for School and Life e.V. ( SSL e.V )
- TERRE DES FEMMES Menschenrechte für die Frau e.V.
- terre des hommes Deutschland e.V.